Kann man eine „Berufung“ haben, ohne dass einen jemand ruft?

(© Melanie Vogel) Der Begriff „Berufung“ hat tiefe religiöse Wurzeln. In vielen Kulturen und Religionen wird der Ruf als göttliche Aufforderung verstanden, einem bestimmten Lebensweg zu folgen. Doch im modernen, oft säkularen Kontext hören wir immer häufiger, dass Menschen ihre Arbeit als „Berufung“ empfinden. Sie sprechen davon, ihrem inneren Ruf zu folgen, und sehen ihre Arbeit als eine Art Mission oder Lebenszweck. Doch in einer Welt, in der viele Menschen keinen Glauben an Gott oder eine höhere Macht haben, stellt sich die Frage: Woher kommt also dieser „Ruf“?

Berufung nach Aristoteles

Der griechische Philosoph Aristoteles hat uns ein hilfreiches Konzept an die Hand gegeben, um über „Berufung“ nachzudenken: „Telos“ oder „Ziel“. Für Aristoteles hat alles im Leben einen bestimmten Zweck. Ein Becher ist aus seiner Sicht gut, wenn er Flüssigkeit hält. Und auch Menschen haben einen Zweck, ein „Ziel“, das es zu erreichen gilt, um ein erfülltes Leben zu führen. Dieses Ziel bezeichnete Aristoteles als „Eudaimonia“, was mit „tiefer innerer Zufriedenheit“ übersetzt werden kann. Um zu diesem Zustand zu gelangen, müssen wir unser „Telos“ erkennen und danach handeln.

Thomas von Aquin

Doch wer oder was gibt uns dieses „Telos“? Hier kommt der Theologe Thomas von Aquin ins Spiel. Er argumentierte, dass der Zweck des Lebens nur dann Sinn macht, wenn es eine „höhere Instanz“ gibt, die diesen Zweck vorgibt – eine Art „Rufer“, der uns unseren Lebensweg zeigt und uns beruft, bestimmte Dinge zu tun. In seiner Argumentation sind wir wie Pfeile, die auf ein Ziel abgeschossen werden. Doch wer hat den Bogen gespannt und den Pfeil abgeschossen?

Die säkulare Perspektive: Freud und Arendt

In der modernen Welt haben die meisten Menschen den Glauben an eine göttliche Instanz oder einen vorgegebenen Lebenszweck verloren. Stattdessen betrachten wir das Leben oft aus einer wissenschaftlichen oder psychologischen Perspektive. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, ging davon aus, dass wir als Menschen ein ständiges inneres Ringen zwischen verschiedenen Kräften – dem Es, dem Ich und dem Über-Ich – erleben. Für ihn war ein erfülltes Leben nicht das Ergebnis eines göttlichen Plans, sondern das Resultat eines Gleichgewichts zwischen diesen Kräften.

Auch die Philosophin Hannah Arendt sah das „gute Leben“ nicht als eine vorgegebene Richtung, sondern als das Ergebnis einer aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben. Ihr Konzept des „vita activa“ betont die Bedeutung des Engagements in der Gemeinschaft. Ihre Philosophie legt nahe, dass wahres menschliches Wohl nur dann erreicht werden kann, wenn wir uns aktiv in die Welt um uns herum einbringen.

Ein Ruf ohne Rufer?

In der säkularen Welt könnte der „Ruf“ weniger von einer göttlichen Instanz kommen als von unseren biologischen und sozialen Umständen. Der „Ruf“ oder die „Berufung“ wird dann nicht von einer übergeordneten, metaphysischen Quelle ausgesprochen, sondern ergibt sich aus der Wechselwirkung unserer genetischen Anlagen, unserer persönlichen Erfahrungen und unserer sozialen Umwelt. Die „Berufung“ wäre demnach also nicht etwas, das wir von außen „auferlegt“ bekommen, sondern etwas, das wir im Einklang mit uns selbst und der Welt um uns herum entdecken.

Berufung und Astrologie: Das 10. Haus und der Mondknoten

Darüber hinaus bietet die Astrologie faszinierende Ansätze. In einem Geburtshoroskop wird das 10. Haus – oft auch als Medium Coeli (MC) bezeichnet – mit Beruf, Karriere und Lebensweg assoziiert. Es zeigt an, welche Rolle wir in der Öffentlichkeit spielen und welche Art von Arbeit uns Erfüllung bringen kann. Das 10. Haus gibt Hinweise darauf, welche Fähigkeiten und Interessen wir entwickeln sollten, um unser Potenzial voll auszuschöpfen. Gleichzeitig spielt der aufsteigende Mondknoten eine wichtige Rolle, wenn es um die Berufung geht. Er symbolisiert unseren karmischen Lebensweg und zeigt an, in welche Richtung wir wachsen sollten, um Sinn und Erfüllung zu finden. Während das 10. Haus eher die äußeren, greifbaren Aspekte unserer Berufung beleuchtet, führt uns der Mondknoten tiefer in die Frage nach dem „Warum“ – warum wir diesen Weg gehen und wie er mit unserem inneren Wachstum verbunden ist. Die Kombination aus beiden Aspekten kann erstaunliche Einblicke in unseren Lebenszweck liefern.

Fazit

Die Antwort auf die Frage, ob es eine „Berufung“ ohne einen „Rufer“ gibt, ist vielschichtig. Die „Berufung“ ist heute nicht mehr ausschließlich ein metaphysisches Konzept, das von einer höheren Instanz ausgesprochen wird, sondern auch ein Produkt der Wechselwirkung zwischen unseren biologischen Anlagen, unseren Erfahrungen und der sozialen Umgebung. Die moderne Vorstellung einer „Berufung“ als etwas, das man „findet“, anstatt es „zu erschaffen“, ist daher nicht von der Hand zu weisen: Wir entdecken – auch in unserem Horoskop – einen vorgezeichneten Weg, der durch uns selbst und unsere Umgebung geführt wird.


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